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Das Meer - ein persönliches Statement.
"Meine Liebe zur See"


"0817 WolkenHorizont", 2010, Edit 3/3, 100x100cm, Inkjet auf Leinen auf Keilrahmen.

Meine Heimat ist Cuxhaven:

Noch fehlten mir die Worte als ich im Alter von viereinhalb Jahren auf dem Kamm des Döser Seedeichs in Cuxhaven stand, vor mir wogte die große Hollandsturmflut, die in der Nacht zum 1. Februar 1953 die Nordseeküste bedrohte. Die Koffer der Familie waren zur Evakuierung gepackt. Mit hunderten von Menschen standen Vater, Mutter, Schwester und ich schweigend in Angst auf dem Deich, im kalten Mondlicht, durch das wilde Wolken aus Nordwest jagten. Wir haben in die verwindete Nacht gesehen und ich habe keine Worte gefunden, um meine Gefühle im rauschenden Sturm vor der rauschen See deutlich und bewusst werden zu lassen. Diese Szene ist als Bild-Gefühl gespeichert, das ich hier mit Worten beschreibe.

"0578 NordseeWellen", 2009, Edit 3/3, 100x100cm, Inkjet auf Leinen auf Keilrahmen.

Immernoch höre ich den Klang der rauen Stimme von Steuermann „Kuddel“ Utermark, bei dem unsere Familie nach der Flucht aus Berlin ab 1947 in der Cuxhavener Adolfstraße einquartiert war.
Nachts kam Kuddel vom Fischfang zurück und brachte frischen Fisch und braune Seeschnecken vom Kutter mit. Es duftete nach Meer.
Während seine Frau und meine Mutter am Eisenherd in der kleinen Küche kochten, saß der Seemann abends bei mir am Bett und erzählte von der Weite und Tiefe des Meeres, von gefährlichen Seeräubern und bizarren Ungeheuern, aber auch von der Schönheit junger Frauen, die wie Fische in der Unterwasserwelt schwammen.

Kuddel hielt mir das leere Gehäuse einer ausgekochten Seeschnecke entgegen, legte mir seine Hand mit der Schnecke ans Ohr und ließ mich dem Flüstern lauschen, das wie Wind klang, der sich im Gras auf dem Deich gefangen hat. Die See in der Schnecke sprach rauschend als Gewirr von Stimmen aus einer tiefen, nassen Welt. Ich konnte sie hören, die fremden Wesen, aber ich konnte nicht verstehen was sie mir sagen wollten.
Und Kuddel Utermark war es auch, der mir immer wieder mit atemberaubender Fantasie erzählte, was zwischen dem Wasser und der Luft, zwischen dem blauen Meer und dem blauen Himmel lebt: Der Horizont! Der Horizont als Geburtsort für alles, was sich und die Fantasie bewegt.

"0152 WolkenFeld über der See", 2003, Edit 3/3, 100x100cm, Inkjet auf Leinen auf Keilrahmen.

Sechs Jahre lang habe ich in Cuxhaven, in der Adolfstrasse 5b gelebt; rund fünfzig Kinderschritte vom Döser Seedeich entfernt, der die Grimmershörner Bucht schützt. Meine Spielwelt war sehr begrenzt auf die Deichwiesen, die steinerne Promenadenmauer, das Watt, das Wasser und auf die kurze Strasse in rotem Klinker gefliest und mit dem verbotenen Obstgarten eines Nachbarn gegenüber. Am Anfang der Sackgasse lag der Kanal „Wettern“, in dem wir Kinder Molche und „Stikkelinsches“ fingen und am Ende türmte sich der mächtige Deich.

Die Musik in dieser Zeit waren das ewige Rauschen der See, des Windes, der Blätter in ausladenden Linden und Pappeln, sowie die durchdringenden Schreie der Möwen im wilden Wolkenhimmel.

Der Duft in dieser Zeit war ein steter Wechsel von gammelndem Tang bei Ebbe und frischer Briese der salzigen Seeluft bei Flut. Vergehen und Leben lagen täglich in der Luft.
Mein einziger geduldiger Zuhörer, für den ich alle Fragen aufhob, war ein „Lindwurm“, der unter einer mächtigen Linde am Ende der Straße mit Blick auf die See hauste. Ich habe diesen Drachen nie gesehen und auch nie durch das Abreißen von drei Blättern von seinem Bann befreit (wie der Volksmund sagte), denn ich wollte ihn so haben, wie er war, ein mächtiger Verbündeter, ganz allein mein Zuhörer in dieser Zeit, als ich
das Sprechen übte.

"0873 DasFeinsteNetz", 2009, Edit 3/3, 100x100cm, Inkjet auf Leinen auf Keilrahmen.

Eines meiner wichtigsten Themen als Kind am Meer war die Frage „Was ist zwischen Wasser und Himmel?“ Die vibrierende Schicht, in der sich das Meer als Wasser mit der Luft des Himmels mischte, war für mich aufgeladen mit Fantasien, die aus dem wachsenden Schatz der vorgelesenen Märchen und Sagen gespeist wurden.
Das Wort für „Horizont“ kannte ich nicht. Meine Gedanken formten sich also ein Bild ohne Wort, und die Fantasien waren mit Gefühlen verbunden, die ich rückblickend als „Sehnsucht“ in Wehmut beschreibe.

Der stets bewegte Horizont wurde der Ort meiner Sehnsucht, über alle Begrenzung hinwegsehen zu können und endlich die Antwort auf die Frage zu bekommen: „Ist dort wirklich das Ende der Welt – und wenn ja, was ist dahinter“? Sind es Worte?

Aus: Manuskript „Was Worte mit mir gemacht haben – und was ich mit Worten gemacht habe.“ Auto-Biografisches aus Anlass der Übernahme der Werksammlung durch das ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe im Jahr 2008. Aktualisiert Juni 2017.


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