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Strand:GUT
"Anonyme Skulpturen im Sand"

Ein Beitrag zur Archäologie des 21. Jahrhunderts. Fundstücke im Sand verschiedener Nordeeinseln. Fotografische Ansichten gesammelt im Mai/Juni 2008 . Eine Kooperation von Michael Weisser (Bilder) und Inge Buck (Poesie) 2008-2013.

Weisser, Buck, Bücking

Projekt „strand:GUT“
Bremer Buchpremiere zum WELTTAG DES BUCHES
Freitag, 24. April 2009 um 19 Uhr
im Wall-Saal in der Zentralbibliothek am Wall
Einführungsrede von Erwin Miedtke
Bibliotheksdirektor - Stellv. Leiter der Stadtbibliothek Bremen

Lieber Michael Weisser, liebe Inge Buck,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

Ihnen allen ein herzliches Willkommen hier im Wall-Saal der Zentralbibliothek. Mein Name ist Erwin Miedtke und ich bin Cheflektor und stellv. Direktor der Stadtbibliothek.
Wir sind heute hier wegen einer eher ungewöhnlichen Buchpremiere, die im Kontext „Welttag des Buches“, einen ganz besonderen Akzent setzt.

Heute stehen Gedichte im Mittelpunkt; Gedichte von Inge Buck - in einem Buch versammelt, aber sie stehen dort nicht allein, sondern gemeinsam, zusammen mit Bildern des Medienkünstlers Michael Weisser. Bilder am Strand gefundener Objekte mit Gedichten dazu.

Beide Künstler stellen heute ihr gemeinsames Buch vor:
Inge Buck und Michael Weisser.
Strand:GUT; erschienen im sujet-Verlag Bremen.

Das klingt gut und fast vollständig, trifft aber dennoch nicht ganz, weil das Buch über die Bilder und Gedichte hinaus viel mehr dokumentiert; seine Intention, das künstlerische Verfahren und die Umsetzung sind komplex. Und immer, wenn etwas komplex ist, sollte man es im Benjamin‘schen Sinn umkreisen, um langsam zum Kern zu kommen.

Ich versuche eine Annäherung sowohl an das Buch als auch an beide Künstler.

1. Versuch: Die Künstlerin

Inge Buck, Dr. phil. ist als Wissenschaftlerin, Autorin und Journalistin bekannt, geboren in Tübingen, lebt in Bremen. Studium der Literatur- und Theaterwissenschaft, Psychologie und Publizistik in Tübingen, München und Wien. Sie war Redakteurin im Deutschlandfunk, Köln.
Kulturwissenschaftlerin an der Hochschule Bremen.
Inge Buck hat viele Werke aus den Bereichen Hörfunk-Features und Hörbilder, Biographie, Literaturkritik und Dokumentarfilm vorgelegt und engagiert sich im Bremer Literaturbetrieb. Sie wurde mehrfach mit Stipendien und Preisen auszeichnet.

Inge Buck hat sich darüber hinaus auch als Lyrikerin einen Namen gemacht und mehrere Gedichtbände veröffentlicht.
Irgendwann in 2007 fragt Michael Weisser sie, ob sie ein gemeinsames Projekt mit ihm machen möchte... - mehr dazu hören wir im Anschluss von beiden selbst. Was mich beim Lesen ihrer Korrespondenz, von der noch berichten ist, sehr stark berührt hat, ist die fast scheue Frage Inge Bucks - als sie schon mitten in der Arbeit steckt -, warum Michael Weisser gerade sie gefragt habe, ob sie nicht ein gemeinsames Projekt mit ihm machen möchte... und er schreibt so klar und wunderbar zurück, fast eine Liebeserklärung unter Künstlern: „deine gedichte sind schön, eindrucksvoll, passend, anregend für mich.....“

Inge Buck hat sich von den Bildern Michael Weissers zu eigenen Gedichten inspirieren lassen, hat sich auf den Unterschied zwischen vorgegebenen Bild und ihrer Sprache eingelassen, sie hat sich eingelassen auf die zunächst außersprachlichen und außerliterarischen Gegenstände auf den Bildern und darauf, dass diese mit ihren Texten verglichen werden können.

Und zu einem Fundobjekt Michael Weissers , einer Bananenschale im Sand, die in ihrer Vergänglichkeit auch eine große Samenkapsel sein könnte, dichtet Inge Buck ein eindringliches Memento mori mit den Versen „Zu lange dauert schon die Reise/ will endlich/Erde werden/ zurückkehren/in einen Baum/mit sonnengereiften Früchten“.

Viele der hier versammelten Verse atmen gemäß der sich auflösenden Fundstücke die Tonlage der Vergänglichkeit, beziehen auch den Menschen ein, der das Ding vielleicht einmal in Händen hielt.

Auf dem Weg mit Michael Weissers Fotos hat sie zu seinen Bildern Worte gefunden und so den ihnen innewohnenden Text freigelegt. Als Arbeitsprinzip bedeutet das: Neue Gedichte entstehen, weil diese Bilder ins Spiel kommen, sie atmen dabei Inge Bucks eigenen poetischen Ton, den wir z.B. aus dem Band „Krähenherz“ kennen.

2. Versuch: Michael Weisser, die Bilder, Wörter, Kommunikation.

„ Neue Texte entstehen, weil Bilder ins Spiel kommen“ – die Bilder von Michael Weisser als Initialaktion dieses Prozesses. Seine Methodik ist die ästhetische Feldforschung in den Medien Bild, Text und Klang.

Michael Weisser zählt zu den Pionieren der Computerkunst in Deutschland. Er studierte von 1967-1972 Bildende Kunst, sakrale und experimentelle Malerei und Grafik an den Werkkunstschulen in Köln, Examen und im Anschluss bis 1978 weiter Kunstgeschichte, Soziologie, Kommunikations-, Erziehungs- und Politikwissenschaft in Bonn und Marburg.

Tätigkeiten u.a. als Dozent für Serielle Grafik und Video-Explorationen, Lehraufträge über Kunst im öffentlichen Raum, experimentelle Fotografie und Kunstmanagement, Gastprofessur zu Computerkultur und Computerkunst

Seine künstlerischen Arbeiten dieser Form von ResearchArt werden in raumbezogenen Installationen präsentiert. In seinem Langzeitprojekt "bremen-AN-sichten" wird Begriff An-Sichten in den Werkserien zweifach interpretiert, nämlich als Bilder von etwas und als Meinungen über etwas. Bilder, Typografien, Worte und Klänge verdichten sich bei ihm zu komplexen Erlebnisräumen.

Eines der vielen Arbeitsprojekte von Michael Weisser wurde mit Unterstützung der Bremer Landesbank, dem Senator für Kultur in Bremen und der Stadtbibliothek Bremen hier im Lesegarten in unserer Zentralbibliothek installiert: die 5x8m messende Wandinstallation "Gesichter der Stadt" ist das Ergebnis eines soziokulturell angelegten Kunst/Kommunikations-Projekts; im dazugehörigen Katalog lässt sich das Arbeitsprinzip im Zusammenspiel der ausgewählten Bilder mit Texten der von ihm Portraitierten nachvollziehen.

3. Versuch: Der Künstlerdialog

Ein ganz besonderer Zugang zum Verständnis des gemeinsamen Werks von Inge Buck und Michael Weisser eröffnet sich durch den im Buch abgedruckten Künstlerdialog, der im Vorfeld dieses Projekts zwischen beiden über fast 6 Monate geführt wurde und dem Leser die Annäherung beider Künstler an das gemeinsame Werk dokumentiert und zugleich auch eine Schule des Sehens und des Schreibens ist... und der ästhetischen Erfahrung, das/wie Bilder ihre Worte bekommen.
Zugleich wird durch den Abdruck die Flüchtigkeit des Mediums E-Mail gebannt und ihnen dauerhafter Verbleib in einem Buch verschafft.

„Hallo Inge und lieber Michael“ ist eine Korrespondenz über gemeinsames Arbeiten, über Bilder, Worte, die gegenseitige Inspiration, über das Wechselspiel von Nähe und Distanz, ein Austausch darüber, was z.B. Strand bedeuten kann, nämlich genau zu schauen, die Struktur des Sandes zu sehen... sowie Hinweise darauf, was Bilder bedeuten: Sie sind für Inge Buck, die Dichterin, Jetztmeldungen, Zustandsmeldungen, die eine Geschichte in sich verbergen, die es mit Worten freizulegen gilt.

Worte stehen für den Bildermacher und Medienkünstler Michael Weisser... auf der anderen Seite des von ihm intendierten Transformationsprozesses. Er will den Wechsel, den Weg vom Bild zum Wort erleben, die Transformation darstellen, festhalten, bearbeiten, vermitteln; erlebbar machen.

4. Versuch: Bild oder Wort?

In dem hier präsentierten künstlerischen Verfahren war das Bild zuerst da. Michael Weisser hatte schon zuvor über Jahre in Dünensand eingeschlossenes Strandgut digital fotografiert: Vom Wasser freigelegte, gewaschene, vom Sand geschliffene, vom Wind gekämmte und von der Sonne gebrannte Dinge, Reste von Natur und Zivilisation im Zustand ihrer Vergänglichkeit. Dinge, die auch als Material bezeichnet werden können, Material für Kunst. Aus der „object trouve“-Theorie kann jedes Ding, was du zum Kunstwerk ernennst zum Kunstwerk werden!

Michael Weisser aber wollte mehr... er wollte das Ding nicht nur mit einem neuen Sinngehalt versehen und abbilden, sondern er fotografierte es, machte davon ein Ab-Bild; durch das Bild werden Erinnerungen (re-)produziert, für die Worte gefunden werden - emotional und assoziativ - in der Verssprache Inge Bucks.

5. Versuch: Wirklichkeit – Empfindungen – Erinnerungen
Ein Künstlerdialog zwischen Bild und Wort oder die Dinge und die Wörter

„Gedichte sind Nervensysteme der Erinnerung“, sagt der mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnete Lyriker Lutz Seiler.

Und wir lernen beim Ansehen der Bilder und Texte von Michael Weisser und Inge Buck, dass die Dinge nicht nur in ihrer vergangenen Realität von Bedeutung sind, sondern als Bestandteile des Sehens zugleich auch der Empfindung unterliegen, die unsere Erinnerung unabhängig von diesen gefundenen Dingen geprägt hat. In dieser Assoziation, Bildern ihren Text zu geben, besteht das künstlerische Verfahren.
Gedichte entstehen, weil diese Bilder ins Spiel kommen! Diese Kombination von Real-Bild und Gedicht zum Bild sprengt bewusst auch den Simulationsraum, in dem Wörter ansonsten Wirklichkeitsersatz inszenieren.

6. und letzter Versuch: Das Buch

Dieses Kunstprojekt funktioniert nicht einseitig nach dem Motto: hier der Fotograf und da die Dichterin. Es handelt sich bei diesem Buch nicht um eine Kombination von Text und Illustration im üblichen Sinne, sondern vielmehr um das Ergebnis eines kreativen Austauschs zweier Künstler, bei dem die Inspiration durch den respektvollen, assoziativen Umgang mit der Arbeit des Anderen im Vordergrund steht. Dieser Ansatz ermöglichte auch ganz andere Blicke auf bereits bestehende Arbeiten beider, aber eben - wie wir hier sehen - auch die Kreation neuer Bild- und Wortkompositionen. Anders als in der uns heute so sehr vertrauten Welt der flüchtigen Bilder erzeugen Inge Buck und Michael Weisser eine doppelte Nachhaltigkeit. Das Ergebnis wird darstellt, Bilder und Texte wurden durch die Gestaltung im Buch wiederum in einen neuen weiteren Bezug gesetzt, eine neue Dimension wird angesprochen, indem durch Helligkeit im Bild Transparenz erzeugt wird; Transparenz, die Zeit nahezu sichtbar macht.

Diese Bilder und Texte von Inge Buck und Michael Weisser haben das Potential, Leser und Betrachter in das ästhetische Geschehen so hineinzuziehen, als seien wir nachgerade physisch darin präsent und erlebten mit, was den Dingen in ihrer Vergänglichkeit beim Ansehen widerfährt – wie „die verlorenen Dinge zu sprechen beginnen und Empfindungen zu Worten werden.“

Erwin Miedtke

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